„In schwierigen Zeiten ist es wichtig, sich der Wissenschaft zuzuwenden“

17. Jänner 2023 Alumni
Oksana und Tymofiy Havryliv aus der Ukraine, zwei erfolgreiche OeAD-Alumni, die sich in Österreich etabliert haben, sprechen über die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine und wie sie aus der Ferne damit umgehen. Oksana ist Germanistin und forscht an der Universität Wien zum Wienerischen und zum Schimpfen (zu verbaler Aggression und verbaler Gewalt). Tymofiy ist Schriftsteller und veröffentlichte soeben seinen fünften Roman.

Unser Team hat ein sehr ausführliches Interview mit beiden im OeAD-Haus geführt. Hier finden Sie den ersten Teil dieses langen Gespräches.

 

Oksana und Tymofiy, was unternehmen Sie derzeit, um Ihre mentale Gesundheit aufrecht zu erhalten?

Oksana: Die ersten Monate nach dem 24. Februar waren für alle schwierig. Wir sorgten uns um unsere Eltern, die dortgeblieben sind, obwohl wir sie zu uns eingeladen hatten. Meine Eltern waren oft hier und kennen diese Stadt, aber gerade in diesen schwierigen Zeiten wollten sie in der Ukraine bleiben, auch wegen der anderen Verwandten, die sie pflegen. In der ersten Zeit hätte ich einen Vertrag für ein populärwissenschaftliches Buch unterschreiben sollen, aber dann habe ich gesagt, dass ich jetzt kein lustiges Buch über das Schimpfen schreiben kann. Ich konnte nur einen Text für die Presse schreiben (Anm.: „Sprache zu Kriegszeiten: Sei verflucht! Verrecke! Krepiere!“) und mich nur noch mit dem Thema Sprache und Gewalt, Sprache und Krieg auseinandersetzen. Und das war wie im Rausch, der Frühling ging vorbei, plötzlich blühte die Magnolie. „Was, die Magnolie blüht schon?“ Wenn ich dann mit meinen Freunden auf Facebook kommuniziert habe, habe ich gesehen, dass es vielen so ging und sie sich auf dem Markt z.B. über Erdbeeren im März gewundert haben und dann festgestellt haben „Meine Güte, es ist schon Juni!“ Dieser Frühling war irgendwie wie gestohlen, das haben viele gesagt. Erst im Sommer kamen viele zu sich, und auch bei mir war das so, der ganze Frühling ging einfach so vorbei.

Tymofiy: Das eigentliche Kapital der Ukraine nach der Wende und Unabhängigkeit war der Friede. Das war für uns der größte Wert, denn wir hatten Schwierigkeiten in der Wirtschaft, im sozialen Bereich, insgesamt ziemlich große Umwälzungen. Es war nicht so leicht, sich von dem sowjetischen System und seinen Strukturen zu verabschieden. Auch wenn man talentiert war, war man ziemlich stark beeinflusst und betroffen von dieser Sowjetrealität. Und in der Folgezeit war dann der Friede das Eigentliche, was die Ukrainerinnen und Ukrainer schätzten, und den hat Putin uns weggenommen. Das heißt, das ist das eigentliche und größte Verbrechen.

In dieser Situation ist es wichtig, immer im Gespräch zu bleiben mit den Verwandten, Bekannten und Freunden und so weit wie möglich auch zu helfen. Das immer im Kontakt bleiben, im Gespräch, das hilft und unterstützt ziemlich stark. Aber auch zielgerichtete Hilfsaktionen, soweit sie gebraucht werden, auch das ist ziemlich wichtig. Man sollte sich nicht abschotten, sich nicht von der Welt abkoppeln. Im Gegenteil, die Arbeit ist eine sehr gute Art, sich weiterzubilden und wissenschaftlich tätig zu sein. Das unterstützt sehr und gibt Kraft.

Oksana: Ich war in der ersten Zeit hin- und hergerissen, ich wollte überall helfen. Ich habe für die Geflüchteten und Organisationen übersetzt und auch privat verschiedene Termine für die Leute organisiert. Dann habe ich gesehen, dass es vielen so ging. Auf den sozialen Plattformen der Ukrainer/innen in Österreich hat dann jemand geschrieben: „Leute, wir müssen jeder das tun, was er oder sie am besten kann, denn sonst ergibt das ein Durcheinander.“ Und dann habe ich mir gedacht, da ich mich mit Themen wie verbaler Gewalt beschäftige, mit den Zusammenhängen zwischen verbaler und physischer Gewalt und den Krieg als Höchstform der physischen Gewalt sehe, entscheide ich mich dafür, mich damit zu beschäftigen und Texte zu verfassen und Interviews in Fernsehsendungen zu geben, wie z.B. bei Barbara Stöckl. Ich habe mir gedacht, dass ich mich auf diese „Informationsfront“ konzentriere. Verbale Gewalt ist ja nicht nur die wüste Beschimpfung und Herabsetzung, sie kann auch in einer neutralen Sprache erfolgen, wie durch das Verbreiten falscher Gerüchte. Die Kremlpropaganda macht ja nichts anderes als falsche Gerüchte zu verbreiten. Diese verbale Gewalt ist es, die zum Krieg geführt hat und ihn auch weiterhin begleitet.

Zum Leben zurückkehren

Viele Leute, sowohl hier als auch in der Ukraine, hatten ein schlechtes Gewissen, wenn sie bestimmte alltägliche Dinge taten. Im April hat jemand auf der Facebook-Seite der Ukrainer/innen in Österreich gefragt, ob jemand eine gute Maniküre in Wien empfehlen könnte. Dann kamen gleich Kommentare wie: „Maniküre? In der Ukraine herrscht Krieg!“ usw. Da hatten die Leute ein schlechtes Gewissen, etwas für sich zu tun. Ab dem Sommer änderte sich das zu „Wir müssen zu unserem Leben zurückkehren“. Ein Bekannter von mir ist Musiker, er ist witzig, spart nie mit Schimpfwörtern und hat geschrieben: „Leute, wir lassen uns nicht kleinkriegen von den ‚ *******‘ (Anm. OeAD: Schimpfwort, welches wir hier NICHT veröffentlichen.). Ich habe mir im Winter so coole Schuhe gekauft und mich wegen des Kriegs nicht getraut, sie anzuziehen. Aber jetzt ziehe ich diese Schuhe an, jetzt spiele ich Musik und ich werde auf dem Balkon tanzen. Denn das Leben muss weitergehen.“ Von einem Extrem zum anderen.

Tymofiy: Aus Trotz der Situation gegenüber. Ich bin mir sicher, dass Putin und Russland bereits verloren haben. Sie sind gescheitert an der Solidarität der Ukrainerinnen und Ukrainer untereinander, und der Welt mit der Ukraine und den Ukrainerinnen und Ukrainern. Er wird aus meiner Sicht auch militärisch scheitern, aber für mich ist das Scheitern an dieser Solidarität wichtig. Das heißt, es ist nicht so wie er es sich vorgestellt hat. Die Einschüchterungen haben nichts genützt. Auch diese grausamen brutalen Bombardements der Infrastruktur, die bringen die Menschen nur enger zusammen. Sie sitzen ohne Licht da, aber sie finden zueinander, gehen aufeinander zu, sprechen miteinander und helfen einander auch.

Oksana: Ich habe noch zu Coronazeiten das Fotografieren als Hobby für mich entdeckt. Das ist bei mir ein Paket zusammen mit Nordic Walking im Türkenschanzpark. Dort fotografiere ich. Ich spezialisiere mich auf Reiher. Da sind zwei Reiher und meine Lieblingsfotos sind der Moment, wenn sie hochfliegen. Ich warte, bis sie wegfliegen, und das ist total entspannend. Ich sehe den Reiher, ich fixiere ihn mit meinem Fotoapparat und ich komme mir vor wie in einem Tagtraum, alles andere wird unwichtig.

Tymofiy: Die Entdeckung der Natur ist ein Heilmittel in dieser Situation, ein ziemlich wichtiges.

Oksana: Es beruhigt mich sehr. Ich habe es den ganzen Frühling nicht gemacht. Aber im Sommer dann, als die Leute gesagt haben: „Wir gehen wieder zur Maniküre! Wir ziehen neue Schuhe an! Wir tanzen zur Musik!“, da habe ich meinen Fotoapparat genommen, bin in den Park gegangen und habe endlich wieder fotografiert.

Was würden Sie Studierenden raten, die jetzt hier sind und vielleicht ein schlechtes Gewissen haben?

Oksana: Sie sollen an sich selbst und der eigenen Ausbildung arbeiten. Es wird alles Können und Wissen für den Wiederaufbau der Ukraine gebraucht werden und dem Land nützen.

Wir waren während schwieriger Zeiten für die Ukraine OeAD-Stipendiaten. In den 90er Jahren bekamen Leute monatelang keine Löhne ausbezahlt und waren auch ohne Strom, obwohl man das nicht mit jetzt vergleichen kann. Es waren damals auf andere Art schwierige Zeiten, und in schwierigen Zeiten finde ich es wichtig, sich der Wissenschaft zuzuwenden und an seiner persönlichen Entwicklung zu arbeiten. Denn die schwierigen Zeiten werden enden, und dann müssen wir die Ukraine wieder aufbauen. Die Leute, die jetzt in Österreich sind, kommen mit diesen Kenntnissen zurück und das Land braucht diese qualifizierten Leute. Ich war zwar keine Franz Werfel-Stipendiatin (Anm.: wie Tymofiy), ich fühle mich aber fast so. Im Laufe der 90er hatte ich dreimal kurze Stipendien, Tymofiy hatte ein längeres Stipendium und wir haben das geschafft, ich weiß nicht, ob es erlaubt war, aber wir waren zu zweit mit einem Stipendium da (Anmerkung der Redaktion: seitens des OeADs ist es erlaubt, sich mit einem Stipendium zu zweit über Wasser zu halten). Wir haben es geschafft, uns mit einem OeAD-Stipendium zu zweit hier durchzuschlagen, in den Bibliotheken an unseren Dissertationen zu arbeiten, verzweifelt zu arbeiten.

Harte Zeiten in den 90ern

Und die 90er waren wirklich harte Zeiten. Arbeitslöhne wurden nicht ausbezahlt. Oder wenn man in einem Werk gearbeitet hat, wurde man mit dem Hergestellten bezahlt. Zum Beispiel hat die Firma von Tymofiys Vater Haushaltsgeräte hergestellt. Dann haben sie die Produktion auf Regenschirme umgestellt, mit denen er eine Zeitlang seinen Lohn bekommen hat. Ich habe diesen Regenschirm noch immer, seit 10 Jahren schon, der hält auch den Wiener Wind aus. Ein Studienfreund von uns hat zum Beispiel bei einem Lampenwerk in der Ukraine als Dolmetscher gearbeitet, hat dann massenweise Lampen bekommen und musste diese auf dem Markt verkaufen.

Diese Zeiten beschreibt Tymofiy jedenfalls in seinem neuen Roman „ACETON“. Jemand bekommt den Arbeitslohn in Form von Kinderspielzeug. Der Roman wurde im November in der Ukraine herausgebracht, hätte aber schon Ende Februar erscheinen sollen. Er war schon gedruckt in einer Druckerei in Charkiw, aber die erste Auflage wurde zerbombt.

Tymofiy: Eine russische Rakete traf direkt die Druckerei, ich glaube es waren Gott sei Dank keine Mitarbeiter da, aber alles war zerstört. Dann hat der Verleger ein halbes Jahr gebraucht, um in einer anderen Druckerei eine neue, zweite Auflage herauszubringen. Der Roman hat auch Wienbezüge. Eine der Städte, in der die Handlung spielt, heißt „Weinberg“. Wien ist für diese Stadt Modell gestanden, in der der Protagonist, ein Chirurg, seine Karriere gemacht hat.

Wir haben aktuell sehr viele ukrainische Stipendiatinnen und Stipendiaten. Gibt es eine Botschaft, einen Tipp oder etwas ähnliches, das Sie weitergeben wollen?

Tymofiy: Ich würde den Studierenden jetzt raten, fleißig zu studieren, neugierig zu sein, Interessen bei sich und bei den anderen zu wecken. Und immer mit Ukrainerinnen und Ukrainern in Kontakt bleiben, durch Gespräche, aber auch durch konkrete Hilfe.

Oksana: Ich kann mich erinnern, unser großer Sohn hat die Volksschule in der Ukraine besucht, und dort beginnt das Schuljahr am 1. September. Im Jahr 2014 waren wir am 1. September in der Ukraine und wir gingen in die Schule, die er früher besucht hatte. Dort ist immer am ersten und letzten Schultag ein schönes Fest im Schulhof. Es war das erste Kriegsjahr damals, und der Direktor sagte, dass man sich in schwierigen Zeiten am besten Wissen aneignen sollte, und ich stimme ihm da zu. In schwierigen Zeiten soll man sich verstärkt auf die Ausbildung konzentrieren. Denn diese Ausbildung werden wir nach diesen schwierigen Zeiten brauchen.

Nun fällt mir noch eine traurige Geschichte ein: Am letzten Schultag versammelt sich die ganze Schule im Schulhof. Es gibt Reden, Gedichte, Musik und Gesang. Jetzt war in diesem Schuljahr 2022 schon Krieg, und in Charkiw war alles zerstört. Es gab so berührende Szenen von einer Charkiwer Schule, die ganz in Trümmern lag. Im Hof versammelten sich die Schülerinnen und Schüler zum Maturaball, und sie tanzten auf dem Hof dieser zerstörten Schule.

Haben Sie jemals vorgehabt, wieder in die Ukraine zurückzugehen?

Oksana: Ja, ich kam mit dem Elise Richter-Programm für vier Jahre nach Österreich. Ich kann mich erinnern, dass wir den Mietvertrag für vier anstatt der üblichen fünf Jahre unterschrieben haben. Wir wollten ganz bestimmt zurückgehen. Und nach den vier Jahren mussten wir dann verlängern und sind noch immer in derselben Wohnung. Wir wollen natürlich zurückgehen, aber wann ist noch nicht sicher. Tymofiy hat eigentlich mehr zwischen den zwei Ländern gelebt, ich war in diesen 10 Jahren schon mehr in Österreich.

Tymofiy: Ich bin ziemlich oft zwischen der Ukraine und Österreich hin und her gependelt. Zuletzt habe ich an der Akademie der Wissenschaften in der Literaturabteilung gearbeitet. Das ist sich mit dem Pendeln ausgegangen, weil ich mit meiner Forschungstätigkeit nicht so stark an einen bestimmten Arbeitsplatz, an einen Ort gebunden bin.

Oksana: Ich möchte noch sagen, dass ich persönlich und die ukrainische akademische Gemeinde uns herzlich für die Solidarität des OeAD mit der Ukraine und die Unterstützung ukrainischer Forscherinnen und Forscher im Rahmen des speziellen Programms "Ernst Mach-Ukraine" bedanken möchten. Ein großer Dank auch an die Universität Wien, die ebenfalls ukrainische Studierende, Lehrende und Forschende tatkräftigst unterstützt und andere Institutionen mit speziellen Programmen für ukrainische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (FWF, ÖAW).

Wir danken herzlich für die Zeit, die Sie sich genommen haben.

 

Tymofiy Havryliv studierte Germanistik, Literaturwissenschaft und Philosophie in der Ukraine und in Deutschland und kam mit einem Franz Werfel-Stipendium nach Österreich. Neben dem Verfassen zahlreicher eigener Bücher hat er viele österreichische Autorinnen und Autoren wie Nestroy, Celan, Trakl, Roth, Bernhard oder Jelinek ins Ukrainische übersetzt. Soeben ist sein fünfter Roman erschienen.

Die ehemalige OeAD-Stipendiatin und Germanistin Oksana Havryliv forscht hauptberuflich zum Wienerischen und zum Schimpfen und unterrichtet an der Universität Wien. Ihr neuestes Buch „Schimpfen zwischen Scherz und Schmerz“ ist 2022 im Picus-Verlag im Rahmen der Wiener Vorlesungen erschienen.

Links zu separaten Interviews:

Interview mit Oksana Havryliv

Interview mit Timofiy Havryliv