Das Gedächtnis des Klassenzimmers
Multidirektionales Erinnern in Grazer Schulen
Seit dem Jahr 2022 beschäftigt der sogenannte Historikerstreit 2.0 die deutsche Gedenkkultur. Dabei wird in Frage gestellt, ob die staatlich getragene Erinnerungskultur mit dem Holocaust im Zentrum den gesellschaftlichen von Migration geprägten Realitäten der Gegenwart noch gerecht wird. Ist der Holocaust tatsächlich noch zentraler Bestandteil des historischen Bewusstseins und der historischen Erzählungen aller im Land lebenden Bürgerinnen und Bürger, oder treten ihm nicht andere (koloniale) Gewalterfahrungen zur Seite? Und damit verbunden, wessen Geschichte wird beispielsweise in historischen Museen oder im Geschichtsunterricht trotz aller Bekenntnisse zu Diversität erzählt? Entsprechen also die dominanten historischen Erzählungen noch den Erfahrungshintergründen der Menschen und, falls das nicht der Fall sein sollte, welche bildungspolitischen Folgen ergeben sich aus den Unterschieden zwischen öffentlichem und privatem Erinnern?
Der Historikerstreit 2.0 stellt den Ausgangpunkt für das Projekt „Das Gedächtnis des Klassenzimmers. Multidirektionales Erinnern in Grazer Schulen“ dar. Dabei wird zunächst durch Lehrplan- und Schulbuchanalysen sowie Leitfrageninterviews mit Lehrpersonen erhoben, welche zeithistorischen Narrative in Grazer Schulen unterrichtet werden. Anschließend wird in lebensgeschichtlichen Interviews, die von den beteiligten Schülerinnen und Schülern mit ihren Eltern und Großeltern geführt werden, empirisch erhoben, welche historischen Erzählungen in den Familiengedächtnissen vorhanden sind. Ausgehend von diesen Interviews wird gemeinsam mit den Jugendlichen eine Wanderausstellung zum „multidirektionalen Erinnern in Grazer Schulen“ gestaltet sowie eine Buchpublikation, die der erwarteten Vielstimmigkeit der Erinnerung Rechnung trägt, erarbeitet. Wanderausstellung als auch Publikation werden durch didaktische Handreichungen ergänzt und basierend auf den Projektergebnissen werden Leitlinien für die zeithistorische und geschichtsdidaktische Pädagog/innenbildung und -fortbildung entwickelt.
Das Projekt wird an sechs Schulen im Grazer Stadtgebiet durchgeführt, die sich voneinander unterscheiden und daher eine große Bandbreite an Diversität abdecken. Es wurden zwei Mittelschulen ausgewählt (eine mit einer stark digitalen Ausrichtung, eine mit einem handwerklichen Schwerpunkt), zudem vier Gymnasien, die von der katholischen Privatschule Sacre-Coeur über das Akademische Gymnasium im Stadtzentrum, dem migrantisch-geprägten Oeverseegymnasium bis hin zum Standort Klusemannstraße, der einen Mittelschulzweig mit dem Gymnasium verbindet, reichen. Diese sehr unterschiedlichen Schulstandorte bieten die Möglichkeit, auf sehr diverse Familiengedächtnisse zuzugreifen, die von den Jugendlichen selbst erforscht werden sollen. Dadurch entwickeln sie nicht nur methodischen Kompetenzen, sondern erlangen auch Agency (Handlungsmacht) in der oben beschriebenen gesamtgesellschaftlichen Debatte. Diese wird von ihnen durch ihre Forschungsarbeit, die Publikation und nicht zuletzt durch die Wanderausstellung mitbestimmt – sie werden auf diese Weise nicht nur Teil des Forschungsprozessen, sondern werden mit ihren Familiengeschichten auch in der Öffentlichkeit sichtbar.