„Bevor man bemerkt wird, muss man sich erst einmal zeigen“

30. August 2024 Scholars
Yuliia Portrait Photo
Zwei Jahre nach ihrer Flucht vor dem Krieg strebt die 23-jährige ukrainische Flüchtlingsstudentin Yuliia Nazarenko bereits einen Doktortitel in Molekularbiologie an.

Yuliia musste ihre Heimatstadt Kyjiw während ihres letzten Jahres des Bachelorstudiums in Biologie an der führenden Hochschuleinrichtung der Ukraine, der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität, verlassen. Der Konflikt durchkreuzte plötzlich ihre Pläne für den Abschluss ihrer Bachelorarbeit und zwang sie, ihr Zuhause, ihre Familie und ihre Freunde zurückzulassen. „Ich wollte schon immer meinen Master-Abschluss im Ausland machen“, erinnert sich Yuliia, „aber ich hätte nie gedacht, dass es unter solchen Umständen geschehen würde.“ Als der Krieg eskalierte, wurde ihr klar, dass sie ihr Studium in der Ukraine nicht mehr fortsetzen konnte. Auf der Suche nach Möglichkeiten in Europa entdeckte Yuliia, dass die Johannes Kepler Universität (JKU) in Linz, Österreich, vom Krieg betroffene ukrainische Studierende unterstützte. Trotz der Herausforderungen, in einem neuen Land mit einem neuen Forschungsthema neu anzufangen, ergriff Yuliia die Gelegenheit, ihre Bachelorarbeit in Österreich zu schreiben.

Die Umstellung war alles andere als einfach. „Ich musste in einem neuen Labor mit einem völlig neuen Forschungsthema neu anfangen und hatte nur noch einen Monat bis zum Abgabetermin“, erklärt sie. Doch mit Hilfe einer unterstützenden Forschungsgruppe an der JKU gelang es Yuliia, ihre Arbeit rechtzeitig fertigzustellen. „Vielleicht, weil ich es eilig hatte, ging meine Anpassung superschnell“, meint sie. Allerdings ging dies nicht mühelos vonstatten, sondern erforderte unzählige Fragen, hohe Aufmerksamkeit und einen enormen Leistungswillen.

Einen neuen akademischen Weg einschlagen

Jetzt ist Yuliia Masterstudentin der Molekularbiologie an der JKU, wo sie ihr Studium mit Forschungsarbeit am Institut für Biophysik verbindet. Ihre Forschung konzentriert sich auf Ionenkanäle in Zellmembranen, wobei sie fortschrittliche Techniken wie die Erweiterung des genetischen Codes einsetzt. Diese innovative Arbeit hat das Potenzial, neue Einblicke in die Mechanismen von Ionenkanälen zu geben und könnte schließlich zu Behandlungen für Menschen mit genetischen Störungen beitragen. „Die Molekularbiologie vereint Wissen aus vielen Bereichen, einschließlich Chemie und Physik, und im Gegenzug erhalten wir eine wahnsinnige Menge an Erkenntnissen darüber, wie die grundlegenden Bausteine des Lebens funktionieren und miteinander interagieren“, sagt Yuliia. Neben ihrem Studium und ihrer Forschung bringt Yuliia der breiten Öffentlichkeit die Wissenschaft näher, indem sie für die führende ukrainische Plattform für Wissenschaftskommunikation, Nauka.ua, Artikel schreibt und Interviews mit renommierten Wissenschafterinnen und Wissenschafter führt.

Unterstützungsmaßnahmen durch das Ernst Mach-Stipendium – Ukraine und die MORE-Initiative

Yuliias schnelle Integration in das österreichische Bildungssystem wäre ohne die Unterstützung des Ernst Mach-Stipendiums – Ukraine und des MORE-Programms an der JKU nicht möglich gewesen. Beide Initiativen spielten eine entscheidende Rolle in ihrem Leben, indem sie ihre finanziellen Grundbedürfnisse unterstützten und ihr den Aufbau einer neuen Gemeinschaft in einem fremden Land ermöglichten. Die finanzielle Unterstützung durch das Ernst Mach-Stipendium – Ukraine, das vom OeAD abgewickelt wird, gab Yuliia mehr Zeit, sich in das neue Studiensystem zu integrieren und die deutsche Sprache zu lernen.

Durch die MORE-Initiative lernte Yuliia eine geflüchtete Studienkollegin kennen, eine Doktorandin aus Syrien, die Jahre zuvor ebenfalls Hilfe im Rahmen des Programms erhalten hatte. Diese Verbindung bot nicht nur psychologische Unterstützung, sondern auch ein Gefühl der Kontinuität und Hoffnung. „Sie war der lebende Beweis dafür, dass das Leben weitergeht und man die eigene Zukunft selbst in der Hand hat“, sagt Yuliia.

Neue Chancen ergreifen

Yuliias Proaktivität beschränkt sich nicht auf Studium und Forschung. Ermutigt durch eine MORE-Koordinatorin an der JKU, gewann Yuliia ein Stipendium für die Teilnahme an einer der größten und renommiertesten internationalen Konferenzen in Österreich, dem Europäischen Forum Alpbach (EFA), wo sie die ukrainische Jugend vertrat und das Bewusstsein für den anhaltenden Krieg in ihrem Land schärfte. Während der Konferenz traf sie Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Organisationen, Unternehmen und der Regierung zusammen, darunter auch der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen.

Neben ihren akademischen und außeruniversitären Aktivitäten findet Yuliia Zeit auch dafür, sich ehrenamtlich als Übersetzerin für ukrainische Flüchtlingskinder in einem Sommerlager zu engagieren. 

„Bevor man bemerkt wird, muss man sich erst einmal zeigen“, rät Yuliia ihren vertriebenen Kolleginnen und Kollegen. Auch wenn es für solche Studierende viel schwieriger ist, wahrgenommen zu werden und Anerkennung zu finden, empfiehlt sie, hart zu arbeiten und niemals aufzugeben, da sich harte Arbeit immer auszahlt.

Planung für die Zukunft

Während Yuliia an ihrer Masterarbeit arbeitet, sieht sie ihre Zukunft bereits in der Forschung und in der Aufnahme eines PhD-Studiums, um so bald wie möglich zur Verbesserung der Gesundheit und des Lebens der Menschen beizutragen. Neben ihrem neuen Leben in Österreich bleibt sie auch ihren ukrainischen Wurzeln tief verbunden. Sie glaubt daran, wie wichtig es ist, an seinen Zielen und Träumen festzuhalten, vor allem angesichts der einzigartigen Herausforderungen, die mit dem Flüchtlingsdasein einhergehen. „Man kann nicht einfach alle zurücklassen und ein neues Leben im Ausland beginnen“, sagt sie. „Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, woher man kommt, und Wege zu finden, wie man seinen Mitbürger helfen kann, egal wo man sich befindet.“
 

Weitere Informationen:

  • Das Ernst-Mach-Stipendium Ukraine ist ein Sonderstipendienprogramm des BMBWF, das seit April 2022 ukrainische Studierende an österreichischen Hochschulen unterstützt. Das Programm endet voraussichtlich im Februar 2025.
  • Die MORE-Initiative ist eine Universitätsinitiative der UNIKO seit 2014 für geflüchtete Studierende. Die JKU bietet die Unterstützung mittels MORE-Borealis-Stipendien und MORE Classic an.
  • Der OeAD Infopoint bietet Informationen zum Studium in Österreich für ukrainische Studierende.
  • Oead4refugees ist die Informationsplattform des OeAD, die einen Überblick über Bildungsangebote und Initiativen im Hochschulbereich für Flüchtlinge in Österreich anbietet.